Seit mehr als drei Jahrzehnten ist Wolfgang Vorhagen eng mit der Aids- und Selbsthilfebewegung verbunden. Nun wird er für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Im Interview blickt er zurück, aber auch nach vorn mit dem Wunsch, dass sich die Generationen im Aktivismus verbünden.
Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung, Wolfgang! Du hast nicht nur als pädagogischer Mitarbeiter der Akademie Waldschlösschen deren Programm maßgeblich mitgeprägt, sondern dort auch die bundesweiten Positiventreffen verantwortet. Es gibt jedoch noch viele weitere Anlässe, dich für dein Engagement zu ehren, wie die Gründung der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS). Was bedeutet denn die Auszeichnung für dich persönlich?
Tatsächlich gab es kurz den Gedanken, ob denn eine staatliche Anerkennung auch bedeuten könnte, sich in gewisser Weise vereinnahmen zu lassen. Andererseits habe ich in den vergangenen Jahrzehnten auf verschiedenen Ebenen immer wieder mit staatlichen Institutionen zusammengearbeitet und gute Erfahrungen gemacht, etwa bei der Finanzierung von Veranstaltungen im HIV-Bereich oder bei der Gründung von BISS. Wenn ich nun also auf mein Leben zurückblicke – sowohl auf die Tätigkeit im Waldschlösschen, die zum Teil ehrenamtlich geleistet wurde, als auch bei BISS und im Kontext von HIV, etwa in Gremien der Deutschen Aidshilfe und bei Positiv e.V. – dann freue ich mich über die Anerkennung dieses Engagements. Die Ehrung ist damit ein schöner Schlussstrich nach nunmehr dreieinhalb Jahrzehnten Ehrenamt und Hauptamt in diesen verschiedenen Bereichen.
Gibt es nach all dieser Zeit noch Themen und Aufgaben, bei denen du dich gefordert fühlst, dich weiterhin zu engagieren?
Als ich 2019 in den Ruhestand ging, habe ich mir tatsächlich vorgenommen, nun nur noch das zu machen, wozu ich Lust habe. Deshalb tummle ich mich in einem Bereich, der mit einer ganz persönlichen Leidenschaft zu tun hat, nämlich der Musik. Ich bin seit fast fünf Jahren im Ehrenamtsteam des Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin engagiert.
Wir müssen uns immer wieder einen Ort in dieser Gesellschaft erkämpfen.
Du hast also viele Kapitel deiner bisherigen Arbeitsfelder geschlossen, zur Ruhe hast du dich aber nicht gesetzt. Was treibt dich heute um?
Im September vergangenen Jahres habe ich auch meine Vorstandstätigkeit bei BISS beendet, weil ich das Gefühl hatte, dass ich mich genug engagiert habe und die Lebenszeit langsam überschaubar wird, in denen ich noch schöne Dinge tun kann.
Ich nehme dennoch an den aktuellen Diskussionen teil, sei es im HIV-Bereich oder auch im Kontext älterer schwuler und queerer Männer, für die ich in der Akademie Waldschlösschen nach wie vor zwei Seminare organisiere und durchführe. Diese Arbeit finde ich besonders wichtig, weil es um meine eigene Generation geht, die zum Teil das Trauma Aids durchlebt sowie die Schwulenbewegung mitgetragen hat. Lediglich die Themen haben sich verändert. Jetzt geht es nicht nur um die Diskriminierung von Schwulen, sondern auch von älteren Menschen. Wir müssen uns immer wieder einen Ort in dieser Gesellschaft erkämpfen. Da kann ich immer noch Dinge bewegen.
Du hast eben erwähnt, dass sich für schwule Männer deiner Generation nicht zuletzt auch altersbedingt die Themen und Problemfelder verändert haben. Wie blickst du auf die aktuellen Debatten der nachgewachsenen queeren Menschen?
Ich bin an diesen Diskursen nicht mehr aktiv beteiligt, weil ich merke, dass sie mich nicht mehr wirklich betreffen. Aber ich verfolge sie durchaus mit Interesse. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ich – insbesondere im queerpolitischen bzw. im queer-feministischen Kontext – wirklich alles nachvollziehen und auch teilen kann. Ich begleite einen Teil dieser Diskussionen dennoch mit einer gewissen Sympathie. Sie erinnert mich an meine eigenen Anfänge in der Schwulenbewegung in Aachen Ende der Siebzigerjahre. Wir bezeichneten uns als schwul – nicht als queer – und haben Diskussionen geführt, mit denen viele der damals älteren Männer, die sich zum Teil eher als homophil denn als schwul verstanden, mit Sicherheit nicht viel anzufangen wussten.
Nun bin ich selbst ein älterer schwuler Mann und denke, dass ich heute auch nicht mehr alles begreifen oder gar gut finden muss, was da diskutiert wird. Aber, und das ist für mich entscheidend: Es ist gibt immer noch eine Bewegung, auch wenn sie sich heute ganz anders aufstellt. Ich finde es nach wie vor wichtig, dass Menschen, ob nun homosexuell, schwul, lesbisch, bi oder queer, sich für ihre Belange einsetzen.
Es ist wichtig, dass wir uns wieder als gemeinsame Bewegung verstehen und auch nach außen hin gesellschaftspolitisch agieren.
Auch wenn die heutige Bewegung eine andere Agenda verfolgt bzw. andere Dinge diskutiert: Viele der grundlegenden gesellschaftlichen Probleme und Themen sind die gleichen wie vor 20 oder 30 Jahren. Was wünschst du dir von den jüngeren Aktivist*innen? Woran sollten sie weiterarbeiten, woran vielleicht anknüpfen?
Zunächst wünsche ich mir, dass die derzeitigen Diskurse, die zunehmend auseinanderdriften – hier queerfeministisch, dort „alter, schwuler, weißer, cis Mann“ und so weiter – wieder mehr zusammenkommen. Und dass auf beiden Seiten mehr über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut wird, unvoreingenommen die Diskussionen der anderen verfolgt werden und zu verstehen versucht wird, worum es da vor den unterschiedlichen biografischen Hintergründen geht. Ich finde es problematisch, wenn wir uns gerade in dieser schwierigen politischen Situation weiter auseinanderdividieren. Es ist wichtig, dass wir uns wieder als gemeinsame Bewegung verstehen und auch nach außen hin gesellschaftspolitisch agieren. Das wird in Zukunft notwendig sein, wenn aus dem Wind, der uns entgegenbläst, dann vermutlich ein Sturm geworden ist. Reflexartige Empörung oder dergleichen können wir uns einfach nicht mehr leisten. Das erhoffe ich mir übrigens nicht nur von den jüngeren, sondern auch von den älteren queeren oder schwulen Menschen.
Woran machst du das fest?
Ich merke etwa bei älteren Schwulen, dass sie oftmals nur ein von Klischees strotzendes Bild von queeren Menschen haben, die sie dann leichtfertig als bunte Vögel abqualifizieren. Ich finde es sehr bedauerlich, dass viele offenbar kein Interesse daran haben, welche neuen Lebensstile und Lebensmodelle, aber auch welche Gemeinsamkeiten es gibt. Die Diskriminierungen haben keineswegs ein Ende gefunden, sie finden nur zum Teil in anderen Formen statt, aber wir erfahren sie dennoch alltäglich. Und dies sind Erfahrungen, die uns über die Generationen hinweg verbinden.
Es ist auch heute noch längst nicht selbstverständlich, positiv zu sein – sei es im Berufsleben oder im Gesundheitswesen.
Siehst du einen ähnlichen Bruch auch innerhalb der HIV-Community? Oder hat sich der Aktivismus dort fließender weiterentwickelt?
Auch der HIV-Aktivismus hat sich bereits seit längerer Zeit verändert und er wird es auch weiterhin tun. Schlicht, weil sich die Voraussetzungen und damit die Themen verändert haben. Die Herausforderungen, mit denen sich meine Generation gesellschaftlich, aber auch ganz persönlich auseinandersetzen musste, waren zutiefst existenziell, denn es ging hier um Überleben, Sterben, Tod und gesellschaftlichen und politischen Diskriminierungen und drohenden Repressalien. Dennoch ist es auch heute noch längst nicht selbstverständlich, positiv zu sein – sei es im Berufsleben oder im Gesundheitswesen. Weite Teile der Gesellschaft haben die medizinischen Entwicklungen bei der HIV-Therapie nicht mitbekommen, und ich schließe da die schwule Community nicht aus.
Was meinst du damit konkret?
Ich frage mich, wie es passieren kann, dass trotz der großen Informationskampagnen selbst viele Schwule noch nicht wissen, dass Menschen mit einer erfolgreichen HIV-Therapie das Virus nicht mehr übertragen können, so dass es für nicht wenige immer noch ein Problem zu sein scheint, mit einem HIV-positiven Menschen Sex zu haben – selbst mit Kondom. Es ist erstaunlich, wie viel Diskriminierung von HIV-Positiven noch immer auf Dating-Plattformen wie PlanetRomeo stattfindet. Auch an dieser Stelle gibt es für die HIV-Community und HIV-Aktivist*innen noch viel zu tun.
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- „Das etwas andere Familientreffen. Das 200. bundesweite Positiventreffen“ (magazin.hiv, 20. 11. 2019)
- „‚So etwas wie mein Lebenswerk‘. Wolfgang Vorhagen über 175 bundesweite Positiventreffen und drei Jahrzehnte Arbeit mit und für die Bewegung“ (magazin.hiv. 12. 11. 2015)